Als er in einem Schulbuch aus dem Jahr 1958 blätterte, fand er dort "keinen Piep über Zwangsarbeit". Er selbst hatte in der Kindheit zwar noch zerbombte Stadtteile gesehen, wurde mit diesem Abschnitt der bremischen Geschichte aber erst konfrontiert, als er auf der Stahlhütte, damals noch Klöckner, anfing.Es war die dritte Station in seinem Berufsleben. Robert Milbradt, 1944 in Vegesack geboren und in St. Magnus aufgewachsen, erlernte den Beruf des Bootsbauers bei Abeking & Rasmussen. An sein Ausbildungssalär erinnert er sich noch heute: 40 Mark brutto im ersten Lehrjahr. Die Lehrlinge mussten sich ihr Werkzeug selbst kaufen. Es kostete 108 Mark, das Geld wurde ihnen vom Lohn abgezogen. Die Ausbildung war "vorbildlich", lobt Robert Milbradt. Es wurde alles auf der Werft selbst hergestellt, sogar Werkzeuge aus Metallresten.
Schauplatz der zweiten Station seines Arbeitslebens war die Nordsee: Durch eine Werftkrise arbeitslos geworden, heuerte Milbradt als Leichtmatrose auf einem Hochseefischer an. Drei Jahre dauerte dieses maritime Zwischenspiel, bis er aus familiären Gründen dem Meer den Rücken kehrte und 1965 auf der "Hütte" anfing."Es war ein ganz anderes Arbeiten", schildert Robert Milbradt. Neu war für ihn die Präsenz der Gewerkschaft. Der war er zwar bereits 1959 beigetreten, doch erst jetzt wurde er aktiv. Alle Stahlkrisen habe er mitbekommen, das Schrumpfen der Belegschaft erlebt, Streiks mitgemacht, darunter den "Wilden Streik" 1969, den schärfsten Arbeitskampf seiner Jahre auf der "Hütte", erinnert sich Milbradt. 1972 wurde er in den Betriebsrat gewählt, dem er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen in den Vorruhestand im Jahre 1999 angehörte.
Die Zeit bei Klöckner, heute ArcelorMittal, bedeutete für Robert Milbradt auch die Konfrontation mit der jüngeren Bremer Geschichte, der Zeit des Nationalsozialismus. Angeregt durch eine Radiosendung über den U-Bootbunker in Farge und die Erinnerungen der Rentner nahm er mit seinem Kollegen Eike Hemmer die Recherche nach den Spuren der Zwangsarbeiter auf.Was er mit seinem Betriebsratskollegen Eike Hemmer und jungen Bremer Historikern herausfand, ist erschütternd: Zeitweise stellten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mehr als die Hälfte der Arbeiter im Stahlwerk. Insgesamt haben um die 1500 Insassen das Lager Riespott auf dem Areal der "Hütte" passiert. Einige hundert Zwangsarbeiter waren auf dem Gelände einer Gaststätte in Grambke untergebracht, zum Teil auf der Kegelbahn. Der Wirt habe natürlich daran verdient und Miete von der "Hütte" kassiert, fügt Milbradt etwas sarkastisch seiner Schilderung hinzu.
Für die historischen Forschungen besorgte sich Milbradt Luftbilder der Alliierten, machte darauf Baracken und Einzäunungen auf dem Gelände des Stahlwerks aus. Man interviewte Zeitzeugen, sammelte Dokumente und rief eine Geschichtsgruppe ins Leben. Zwei Radiosendungen wurden produziert, eine Broschüre herausgegeben.Wichtig für die Recherchen war die Kontaktaufnahme mit ehemaligen Zwangsarbeitern aus Frankreich. Sie seien sehr offen gewesen, aus den Begegnungen hätten sich Freundschaften entwickelt, erklärt Milbradt. Später kamen Kontakte mit einstigen Lagerinsassen aus der Sowjetunion hinzu.
Ein wichtiger Fund sei, so Robert Milbradt, einer Reinmachefrau zu verdanken: Sie hatte nach dem Konkurs der AG "Weser" ganze Plastiktüten voller historischer Fotos aus den Papierkörben gefischt und vor dem Reißwolf gerettet. Ebenso wichtig war die Entdeckung der Lagerkartei mit den Daten der Zwangsarbeiter. Sie wurde digitalisiert und mit einem EDV-Programm ausgewertet. Auffallend häufig taucht hinter den Namen die Herkunftsbezeichnung "staatenlos" auf. Diese Zwangsarbeiter stammten aus Regionen, über deren Zukunft - Anschluss an Deutschland oder Satellitenstaaten - die Naziführung noch nicht entschieden hatte.
"Es war eine wahnsinnige Maschinerie", fasst Robert Milbradt die Ergebnisse der Spurensuche zur Zwangsarbeit zusammen. Die Maschinerie beschränkte sich nicht auf das Stahlunternehmen, die Zwangsarbeit erstreckte sich auf die AG "Weser" und den Vulkan. Die Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge schufteten am Bau des Bunkers "Hornisse", in dem neun Meter unter der Oberfläche der Weser Schlachtschiffe hergestellt werden sollten, und an der Errichtung des U-Bootbunkers "Valentin" in Farge. Die Zwangsarbeit war, so Milbradt, wesentlicher Bestandteil des Rüstungsverbunds Bremer Firmen, was wahrscheinlich, wie er vermutet, auch Grund des beflissenen Schweigens nach dem Krieg war.
"Das größte Verbrechen", das dann noch hinzukam, ist für Robert Milbradt die Evakuierung des Lagers Riespott: Als die Panzer der Alliierten bereits unweit Bremens standen, wurden die Lagerinsassen zunächst nach Farge und von dort nach Lübeck transportiert, wo viele bei einem Bombenangriff ums Leben kamen.
Nach dem Krieg hatte das Lager Riespott auf dem Hüttengelände nicht ausgedient. Zuerst wurde es mit Flüchtlingen aus Danzig belegt, danach bezogen dort Nazis im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens Quartier. Und 1949 brachte die Stadt Bremen gar Sinti, unter ihnen Überlebende aus Auschwitz, in Riespott unter - "als wäre die Zeit stehen geblieben", fasst sich Milbradt an den Kopf.
Die Nachforschungen, die Betriebsräte wie Milbradt und Hemmer und Historiker wie Gerd Meyer anstellten, haben dafür gesorgt, dass des Schicksals der Zwangsarbeiter gedacht wird. An den Stätten des Grauens wurden Gedenktafeln angebracht. Für Robert Milbradt, der heute als Rentner in Burglesum wohnt, ist dies alles nicht genug: Was in Bremen-Nord fehle, sei ein Geschichtsmuseum. Ein Museum, das nicht nur Nazijahre und Zwangsarbeit dokumentiere, sondern die Erinnerungen an die Industriearbeit zu Leben erwecke. Eine Gedächtnisstätte für den "Vulkan" und die vielen Pleite gegangenen kleinen Werften, für die frühere Vegesacker Fischerei. "Der Wandel sollte sichtbar gemacht werden", fordert Robert Milbradt: Dass es kein solches Geschichtsmuseum in Bremen-Nord gebe, sei ein "Trauerspiel", ein "Armutszeugnis".
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