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Zwei Welten begegnen sich in Mittelsbüren

Die Himbeersträucher im Schulgarten sind die Grenze

  • In Mittelsbüren, wo heute noch vereinzelt Gänse schnattern und Kühe blöken, soll morgen glühender Stahl gewalzt werden. Jahrhundertelang blieb die Siedlung der Grönlandfahrer und Marschenbauern von der Welt abgeschieden. Jetzt aber steht sie in einem Umwandlungsprozeß, dessen Grenze sich deutlich an den Himbeersträuchern im Schulgarten des Lehrers Herbert Ehrhard abzeichnet. Was jenseits der Himbeeren steht, wird Fabrik, was sich diesseits der Sträucher befindet, bleibt mittelalterliches Dorf. An dieser Grenze zweier Welten arbeitet der Lehrer der einklassigen Volksschule Mittelsbüren bedächtig in seinem Garten und sinnt über die Leistungen seiner Schüler nach. Lehrer Ehrhard merkte schon vor zwei Jahren, daß die Konzentrationsfähigkeit der Schüler nachließ. Denn die Kinder hatten zu Hause schon etwas von den Plänen für dies Gelände gehört und bangten nun um eine Welt, die sie für immer aufgeben sollten. Der junge Lehrer wollte den Kindern aber diese Welt der grünen Wiesen, des gelben Strandes und der roten Häuser in der Erinnerung erhalten und verfaßte deshalb zusammen mit seinen vierzig Schülern eine Chronik des Ortes Mittelsbüren. Es ist die Chronik eines sterbenden Dorfes, aber zugleich auch die Überleitung zu den ersten Anfängen eines künftig bedeutsamen Werkes.

Bürener Schule
Bürener Schule

Wohin nach dem 1. Juli ?

  • Die Schule an der Moorlosen - Kirche wurde von Kindern aus Mittelsbüren und Niederbüren besucht. Die Schüler aus Mittelsbüren haben die Schulbänke schon verlassen. Aber noch sitzen zwanzig Schüler dort, deren Eltern Mieter in Mittelsbüren sind und noch nicht genau wissen, wo sie später eine Wohnung finden sollen. Außerdem unterrichtet Lehrer Ehrhard noch acht Schüler aus Niederbüren und zehn Kinder aus den ehemaligen Flakbaracken "Auf dem Sande", deren Wohnstätten jenseits der Enteignungszonen liegen. Da diese Schüler meistens Abc-Schützen sind, hegt Lehrer Ehrhard vorläufig noch keine Umzugsgedanken.

Vor der Sandflut kommt Wasser

  • Deshalb zieht er auch jetzt noch während des Heimatunterrichts mit den Kindern von Bauernhaus zu Bauernhaus und fertigt mit ihnen Grundrisse und Fassadenzeichnungen an, so wie die Kinder ihre liebgewonnene Umgebung sehen. Der Hofhund an der Kette wird genau so mitgezeichnet wie die letzten Hühner auf dem Hof. Und jedes Haus erhält darüber hinaus seine Chronik. "Meine Großeltern bewohnten das Haus Nr. 17", steht da in sauberer Schönschrift einer Zwölfjährigen. "Früher hatten sie auch einige Pensionäre. Die meisten waren Zöllner. Meine Großeltern gründeten auch das erste Familienbad in Bremen. Es gab auch 16 bis 17 blaue Badekabinen, zwei Bademeister und einige Rettungsringe. Sonntags kamen dann 100 bis 200 Badende zum Strand. Die Frauen gingen sozusagen mit Kleidern ins Wasser." Mit jeder Zeile nehmen die Kinder Abschied von Mittelsbüren.

  • Wenn Lehrer Ehrhard diese Aufsätze zensiert, blickt er auf den Schulacker, dessen Früchte seine Amtsvorgänger bis zur Jahrhundertwende mit ernährt haben. Heute liegt dieser Acker im Enteignungsgebiet. Der Bauer und Gastronom Imhoff, der ihn bislang bestellte, hat auch in diesem Frühjahr den Acker bestellt und hofft, noch die Frühkartoffeln ernten zu können, bevor der gelbe Sand zur Geländeaufschüttung auf die Ackerkrume gespült wird. Allerdings sieht es nicht danach aus, als ob die Natur sehr gebefreudig wäre. Denn mit jedem Kubikmeter Sand, der durch die Rohrleitungen aus der Weser gebaggert wird, fließen mehrere Kubikmeter Wasser auf das Land. Dadurch steigt der Grundwasserspiegel, und bevor die Sandflut kommt, ist die Wasserflut schon da. Bei den Obstbäumen, die in diesem Jahr in übervoller Blütenpracht standen, klatschen die Wellen bereits gegen die Stämme.

  • Inzwischen türmt sich der Sandberg hinter den strohgedeckten Häusern von Osterort fast vier Meter hoch. Wenn ein Fremdling seine Nase an die blitzende Fensterscheibe drückt, sieht er alles sauber und gepflegt wie nach einem großen Frühjahrsputz. Aber die Türen sind veriegelt und die Klingel ist abgestellt. Erst dann zogen diese Menschen, die seit Generationen unter diesem Strohdach beheimatet waren, aus. So, als ob sie in die Ferien führen und in vierzehn Tagen zurückkämen.

Räumungs-Ausverkauf

  • Für die schwarzbunte Kuh des Bauern Hollmann kommt der ganze Wandel etwas überraschend. Sie ist das letzte Rind in Osterort und grast zusammen mit dem Schaf des Nachbarn Lübbens die letzten grünen Halme auf dem schmalen Streifen zwischen Weserufer und Strand ab. Die Bagger kreischen, in den Rohrleitungen knirscht der Kies, Raupenschlepper knattern, und dazwischen liegt eine Kuh und bewegt wiederkäuend ihren Unterkiefer von links nach rechts.

  • Einige Schritte von dem landwirtschaftlichen "Überbleibsel" entfernt, sägt Opa Lübbens Holz. Dieses Holz wird er in seinem Neubau am Stadtrand verheizen, den er von seiner Entschädigung bauen läßt. Sein Sohn Karl, der mit ihm unter einem Dach wohnte, ist mit seiner Entschädigung noch nicht klar. Er wünscht ein angemessenes Entgelt für die Erfrischungsbude, die er im Sommer am Mittelsbürener Strand stehen hatte. Heute steht vor dem Strand ein Schild "Baustelle! Betreten und baden verboten!" Karl Lübbens verkauft nun seine Bonbons und Limonaden nicht mehr an Badegäste, sondern von der Diele aus an die Arbeiter. Er nennt das Räumungs-Ausverkauf. Denn nach diesem Geschäft wird er nicht mehr einen einzigen Dauerlutscher loswerden.

15 km bis zu Krämer

  • Dem Dietrich Kahrs, der seit 1934 mit einem Pferdefuhrwerk und später mit einem Dreradlieferwagen voll Lebensmittel über den Deich führ, ergeht es ebenso. "Nach dem 1. Juli werd´ich wohl nicht mehr kommen können!" erzählt er den Hausfrauen, die an seinem Wagen Kartoffeln und Butter kaufen. "Der Deich soll endgültig gesperrt werden!" - "Was soll denn aus uns werden", sagt eine Hausfrau. "An eine neue Wohnung ist doch gar nicht zu denken. Und wenn sie uns den Deich sperren, brauchen wir fünfzehn Kilometer bis zum nächsten Krämer."

  • "Tschä!" sagt Dietrich Kahrs und zählt an den fünf Fingern ab: "Der große Albert Haake ist weg, der kleine Albert Haake ist weg. Schmidt ist ausgezogen, und nur Oma und Opa bleiben von denen noch da. Sind als einzige Bauern nur noch Arens und Jachens im Dorf! - Darf´s für zehn Pfennig mehr sein?"

Genug Motive für einen Künstler

  • Der Lebensmittelwagen rumpelt weiter und hält dann erst wieder am "Gasthaus zur Erholung". Am Eingang steht eine schnurgerade Reihe bunter Liegestühle, so als ob stündlich die Sommerfrischler erwartet werden. Doch im "Gasthaus zur Erholung" erwartet man keine Sommergäste mehr, sondern - weil gleich Feierabend ist - die Arbeiter. Alle Zimmer des Hauses sind belegt. Selbst im Saal stehen Betten, und meistens übereinander.

Hans Hallier malt das Mittelsbürener Pastorenhaus

  • Der einzige stille Gast, der seit Jahren in einem Zimmer des oberen Stockwerks wohnt, müßte sich erst an die neue Umgebung gewöhnen. Es ist der Kunstmaler Hans Hallier. Für einen Künstler birgt die Natur, die sich ungestüm in eine Industrielandschaft verwandelt, genug Motive, um davon eine ganze Schaffensperiode zu zehren. Doch Hans Hallier kommt kaum dazu, diese Motive zu gestalten. Er malt hauptsächlich Häuser. Und auch bei diesen Bildnissen steht der Auftraggeber unsichtbar hinter ihm und führt den Pinsel. Jeder Stein muß mit aufs Bild. Die blauen Fenstervorhänge, die der Künstler lieber gelb gemalt hätte, müssen blau bleiben. Denn so hat der Auftraggeber, der hinter diesen blauen Vorhängen lebte, sein Haus in Erinnerung. Und so will er es, in Öl von Künstlerhand verewigt, in Erinnerung behalten.

Hans Hallier liefert Häuser in Öl

  • Hans Hallier liefert Häuser in Öl gemalt auf Leinwand. Sein Konkurrent ist der Lehrer Ehrhard, der die bleibende Erinnerung für jeden Hausbesitzer in Postkartengröße liefert: Als Farbfoto im Hochglanzabzug. Dieser Methode sind die Mittelsbürener Bauern sehr zugetan, denn sie gewährleistet, daß die ganze Familie lebensecht gleich mit aufs Bild kommt.

  • Die letzten Fotos hat der Lehrer auf dem Friedhof geknipst. Selbst hier, in diesem idyllischen Winkel, macht sich der Auszug der Bauern bemerkbar. Die meisten von ihnen haben die Familiengräber mit Kunststein neu eingefaßt und einen wetterfesten Marmorstein mit Goldinschrift aufgestellt. Die Inschriften, mit denen sie sich von ihren Toten verabschieden, könnten gleichzeitig ein Abschied von dem untergehenden Dorf sein: "Ruhe sanft!"

Erstellt von: Letzte Änderung: Samstag den 04. März. 2017 11:23:26 CET von Rainer Meyer
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