Siebzehn Jahre im Schlaf
  • Image Infolge eines höchst seltenen und auch merkwürdigen Krankheitsfalles, der in Grambke vor einem Jahrhundert vorkam, ist der Name unseres Heimatortes zeitweilig in der ganzen Welt genannt worden. Fast in allen deutschen und in vielen außerdeutschen Zeitungen ist darüber geschrieben worden. Es ist die Schlafsucht der Gesine Meyer in Grambke. Zum ersten Male wurde dieses junge Mädchen im Alter von 19 Jahren im Winter 1879 / 1880 von einer eigentümlichen Schlafsucht befallen; sie schlief damals dreißig Wochen lang. Nach dem Erwachen blieb sie sechs Jahre gesund. Im Jahre 1886 zeigte sich wiederum eine zeitweilig auftretende Schlafsucht, die anfangs 3 bis 4 Tage, später 8 bis 14 Tage und noch länger dauerte. Im Dezember desselben Jahres schlief sie vollkommen ein und blieb 17 Jahre im Schlaf befangen. Die Bemühungen vieler Bremer und berühmter auswärtiger Ärzte, die Kranke aus ihrem Traumzustande zu erwecken, blieben erfolglos, so daß die Familie Meyer schließlich keine ärztlichen Versuche mehr zuließ.

 

  • Die Pflege der Kranken hatte fast ausschließlich dir treue Mutter in der Hand, die allmählich jede Äußerung eines Wunsches, der Befriedigung, der Abneigung oder des Schmerzes bei der schlafenden Tochter kannte. Irgendein Bedürfnis veranlaßte die Kranke zu einem unruhigen Klopfen mit den Händen auf der Bettdecke. Sie nahm jede flüßige oder feste Speise zu sich wie ein wachender Mensch und zeigte dabei einen sehr stark ausgeprägten Geschmacks- und Geruchssinn. Ihr Appetit zeigte sich an durch Gähnen. Trotz aller sorgfältigen Pflege machte die Kranke während ihres Schlafes allerlei Krankheiten durch; einmal überstand sie sogar ein schmerzhaftes Geschwür. Nach ihrem Erwachen sagte sie, daß sie während der ganzen Zeit keinerlei Empfindungen gespürt habe. Nach dem Tode der Mutter im Jahre 1900 übernahm eine treue Hausgehilfin mit größter Gewissenhaftigkeit die schwere Krankenüflege.

 

  • Das Erwachen aus diesem endlosen Schlaf geschah in der Nacht zum 15. Dezember 1903 durch den Feuerlärm, als das Nachbargehöft in den frühen Morgenstunden in Flammen aufging. Die Kunde von dem Erwachen der Gesine Meyer erregte zu dieser Stunde die Dorfbewohner mehr als das Brandunglück; denn längst hatte man sich daran gewöhnt, von der Schlafkrankheit der Gesine Meyer als von etwas Alltäglichem, längst Gewohntem und einem unabänderlichen Schicksal zu sprechen. Für die Erwachte kamen natürlich Stunden größter Bewegung, als ihr zur Klarheit wurde, eine wie lange Nacht hinter ihr lag.

 

  • Überraschend war das gute Gedächtnis der Kranken, mit dem sie sich aller Einzelheiten aus den Jahren vor ihrem langen Schlafe entsann. Ebenso wie ihr Einschlafen hat ihr Erwachen sowohl in unserer Vaterstadt als auch weit darüber hinaus größte Aufmerksamkeit hervorgerufen.

 

  • Wenn sie auch körperlich nicht wieder die frühere Leistungsfähigkeit erlangte, so war sie doch geistig sehr frisch und rege. Sie starb im Kriegsjahr 1915 in ihrem 55. Lebensjahre an einer ernstlichen Erkrankung.