Ein Dorf weicht dem Stahl

  • Weser Kurier vom 24.06.2007


GRAMBKE. Eine schon von weitem sichtbare Raffinerie, markante Schornsteine und ein weitläufiges Areal mit Verwaltungsgebäuden, Werkstätten und anderen Gebäuden mehr. Die Stahlwerke Bremen, heute Arcelor Mittal, sind aus dem Werderland nicht mehr wegzudenken. Sie sind Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber zugleich. 50 Jahre zuvor wurde an selbiger Stelle schon einmal gewirtschaftet. Landwirte, Fischer und Walfänger hatten in Mittelsbüren über Jahrzehnte ihr zu Hause. Bis der Stahl kam.


Es muss 1954, so Mitte Dezember gewesen sein, während eines Abendessens, erinnert sich Hermann Siefken, der bis zu seinem zwölften Lebensjahr noch in Mittelsbüren lebte. Einige fein gekleidete Herren diskutierten in vermutlich sehr zurückhaltender Lautstärke in der Mittelsbürener Gaststätte "Zur Moorlosen Kirche" die Ansiedlung einer Raffinerie der Firma Shell. Und zwar genau an jener Stelle, an der die Mittelsbürener ihre Heimstätte hatten: Auf dem Gelände der Bürener Feldmark. Warum sie ausgerechnetet diesen Standort favorisierten? Siefken erklärt es in einem fünfseitigen "Waschzettel" zur Geschichte Mittelsbüren: "Die Anbindung des Geländes an die Weser als Transportweg erschien wohl ideal. Und die paar Häuser, ja mein Gott, die würden eben weichen müssen", schreibt er.Doch die illustre Gesellschaft, die sich damals traf und überwiegend der Geschäftsleitung der Norddeutschen Hütte entstammte, redete wohl nicht leise genug. Denn, so sagt Siefken, "da bekamen die Mittelsbürener Wind von der Sache." Die Neuigkeit machte die Runde, ganz Mittelsbüren und die angrenzenden Ortsteile waren schließlich alarmiert, in Siefkes Familie schlug die Nachricht gar wie eine Bombe ein. "Mein Großvater Hermann Imhoff hat das damals aufgeschnappt. Er war am Boden zerstört, bis ins Mark getroffen.""Am 16. Januar 1955", so erinnert sich der Sohn des früheren Gastwirtes Zur Moorlosen Kirche weiter, habe dann die erste Versammlung mit Bürgern der Ortschaft stattgefunden. Widerstände formierten sich, doch vielleicht mag auch schon zu diesem Zeitpunkt der ein oder andere insgeheim spekuliert haben, sein Hab und Gut teuer verkaufen zu können. Denn so viel stand fest: "Die Sache war nicht mehr aufzuhalten." Der Bremer Senat machte bereits Druck auf die Mittelsbürener, sprach sogar schon von Enteignung, was er allerdings aus rechtlichen Gründen nicht durchboxen konnte, hat der 59-Jährige recherchiert.
Weil alles nicht so glatt lief wie geplant, sprang die Shell AG schließlich vom Zug ab, die Duisburger Firma Klöckner Stahl dafür auf. Von ihr erhielten die Mittelsbürener Geld für ihre Grundstücke: 3,50 Mark pro Quadratmeter, "Das schien damals ein hoher Preis", meint Siefken. Schnell habe deshalb das Wort von den "Bürener Millionären" die Runde gemacht. Doch diesen Ausdruck will Siefken nicht unkommentiert stehen lassen. Sämtliche Gebäude seien ja mit dem Geld ebenfalls abgegolten gewesen, sagt er, und als es sich erst einmal herumgesprochen hatte, dass die Mittelsbürener auf Hofsuche seien, weil ihre Häuser abgerissen werden sollten, da wurden die Preise für entsprechende Immobilien schlagartig angehoben. "Da hat sich manch anderer dran gesund gestoßen", ist er überzeugt. Doch Siefken räumt auch ein: "Im Grunde haben es die Leute aber verstanden, sich mit diesem Geld wieder eine Existenz aufzubauen."Dass die Bürener überhaupt relativ schnell bereit waren, sich mit der Auflösung des Dorfes zu befassen, sei aus heutiger Sicht wohl nur mit dem Umstand zu erklären, dass der Zweite Weltkrieg mit seiner Not noch in den Köpfen der Menschen sehr präsent war, überlegt Siefken in seinem "Waschzettel". "Ach Gott, wenn es uns trifft, dann gehen wir woanders hin, vielleicht geht es uns dort noch besser", formuliert er einen möglichen Gedankengang.
Ließen sie auch Hof und Haus hinter sich, in einem Punkt zeigten sich die Bürener unnachgiebig. Die Kirche mit den direkt umliegenden Gebäuden, den Karkerhöft, sollte Klöckner nicht aufkaufen können. Denn das hätte auch die Auflösung der Kirchengemeinde Büren zur Folge gehabt. Die Bürener setzten sich durch. Fortan hat die Gemeinde aber nicht mehr am Kirchensteuer-Aufkommen teil. Sie muss die Kirche und die Gemeinde mit eigenen Mitteln sichern.Die Geschichte Mittelsbüren ist derzeit in einer Ausstellung mit vielen Dokumenten und Gegenständen im Schloss Schönebeck dargestellt. Die Ausstellung endet am 22. Juli 2007.